Jeden Sonntag veröffentlichen Anke Becker und Christina Marie Huhn eine neue Aufgabe für ihre #Protastik-Challenge. Am darauffolgenden Donnerstag werden dann die Geschichten dazu gepostet.
Unseren Beitrag findet ihr ebenso Hier und Hier(Teil2)+Bonus
Angel saß müde in der Bibliothek der Villa. Warum hatte sie auch nicht bedacht, dass diese antiken Bücher Titel und Autor größtenteils nicht auf dem Einband stehen hatten, als sie André angeboten hatte, die Katalogisierung zu übernehmen?
Und dann genügte es ihr natürlich nicht, diese Informationen rauszusuchen – nein, sie musste ja auch gleich noch anfangen, eine grobe Einordnung der Inhalte zu machen wodurch sie nun schon fast den ganzen Tag hier saß.
Sie griff endlich zum letzten Buch und schlug es auf. Gähnende Leere blickte ihr entgegen.
Auch nach mehrmaligem Blinzeln und einem kurzen reiben über die erschöpften Augen änderte nichts daran.
»Drewfires Tagebuch also«, dachte sich Angel ironisch, da sie sich absolut nicht vorstellen konnte, dass ihre Freundin jemals so etwas wie ein Tagebuch geführt hatte. Sie wollte das Buch gerade weglegen, um endlich Feierabend zu machen, als sie bemerkte, wie sich die Seiten langsam zu füllen begannen.
Abermals rieb sich Angel die Augen, aber das änderte nichts an dem Text der, in einer ihr durchaus bekannten Handschrift, auf den Seiten zum Vorschein kam:
›Memorandum aus dem Leben von Drewfire
– anno 348 Schattenzeit.
Die jung Drewfire wird von ihrer Mutter gedrängt, sich heraus zu putzen, da sie Besuch erwarten‹
Fasziniert betrachtete Angel die Worte, die sich vor ihren Augen von selbst schrieben. Ob sie vielleicht … ? Noch bevor sie ihren Gedanken richtig zu Ende gebracht hatte, griff sie bereits nach dem Kugelschreiber und setzte ihn an das letzte Wort, das sich gerade bildete.
›Sie entschied sich…‹, las Angel laut und begann zu schreiben: ›…für das pfirsichfarbene Kleid.«
Eine Farbe, die Drewfire sicher stehen würde, wie Angel fand, von der sie sich aber recht sicher war, dass sie sie auch als Kind bestimmt nie freiwillig getragen hätte.
Direkt dahinter bildeten sich die nächsten Worte:
›Drewfire zog das Kleid heraus, entschied sich nach kurzer Überlegung aber doch für ein anderes.‹
Was war das für ein Hexenbuch? Das konnte doch nicht wirklich Drewfires Vergangenheit sein. Oder?
Der Gedanke, dass sie nicht in den Erinnerungen ihrer Freundin herumwühlen sollte, drohte gegen die unbändige Neugier zu verlieren, die ihr sagte, dass sie nun endlich die Geschichte erfahren könnte, die ihre Freunde ihr bisher immer vorenthalten hatten.
Nein, vermutlich nutzte dieses Buch ohnehin nur Angels eigene Fantasie. Es wäre somit keine wirkliche Verletzung von Drewfires Privatsphäre. Also…
Langsam blätterte sie durch die Seiten und somit durch das Leben ihrer besten Freundin. Dabei überflog sie den Text nur, bis sie den ersten Eintrag entdeckte, in dem Ryans Name vorkam.
›anno 351 Schattenzeit‹
Mit einem Mal begann sich in der Buchmitte ein Licht aufzubauen, bis es wie ein Blitz vor Angels Augen explodierte.
Als sie endlich wieder klar sehen konnte, saß sie nicht mehr in der Bibliothek sondern war mitten in der Geschichte…
»… dann bleibe ich eben einfach hier!«
»Zum letzten Mal: Das ist nicht verhandelbar! Und jetzt geh dich endlich fertig machen. «
»Aber …«
»Nicht. Verhandelbar!«
Völlig überrumpelt von der Situation sah Angel dem Mädchen nach, welches nun wütend aus dem Raum stampfte und die Tür hinter sich zuwarf.
War das wirklich Drewfire als Kind?
Ein resigniertes Seufzen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Frau, mit der das Mädchen gestritten hatte. War das dann ihre Mutter?
»Woher hat sie nur diesen Sturkopf?«, fragte die Frau an einen Mann gewandt, der soeben das Zimmer betreten hatte.
»Ach, da würde mir schon jemand einfallen«, antwortete er mit einem verschmitzten Lächeln. Von Angel schien keiner Notiz zu nehmen.
Das waren also Drewfires Eltern? Angel hatte sie nie wirklich aus der Nähe gesehen.
In diesem Moment kam auch das junge Mädchen zurück. »Fertig«, erklärte sie trotzig und funkelte ihre Mutter mit verschränkten Armen an.
Sie hatte sich lediglich ein schlichtes und eher praktisch anmutendes, Kleid angezogen, welches nicht ansatzweise mit der adretten Kleidung ihrer Eltern mithalten konnte.
»Lass es gut sein, Iya. Wir müssen los, sonst verspäten wir uns«, sagte Drewfires Vater, ehe seine Partnerin einen weiteren Protest aussprechen konnte.
Die Umgebung verschwamm vor Angels Augen, um sich kurz darauf wieder zu einer neuen Kulisse zu manifestieren.
Es dauerte einen Augenblick, ehe Angel das recht neu anmutende Gemäuer als Draculas Schloss erkannte. Natürlich, Ryan und Drewfire waren sich das erste Mal begegnet, als er offiziell bei den Atra Rosa aufgenommen wurde. Solche Anlässe fanden seinerzeit immer im Schloss statt.
Der Saal war recht gut gefüllt, auch wenn es damals noch deutlich weniger Vampire im Clan gab. Drewfire und deren Eltern, entdeckte Angel recht weit vorn, wo sie sich gerade mit dem Schreiter Amon unterhielten. Besser, die Erwachsenen unterhielten sich. Drewfire stand lediglich, offensichtlich unzufrieden, daneben.
Angel musste unwillkürlich schmunzeln, ihren Unmut kundtun, ohne auch nur ein Wort zu sagen, konnte ihre Freundin also schon als Kind gut. Als Amon sich schließlich verabschiedete, bedachte ihr Vater das Mädchen mit einem strengen Blick und flüsterte ihr etwas zu, was Angel aber leider nicht verstand.
Sie sah sich weiter um auf der Suche nach Ryan, konnte ihn aber nirgends entdecken. Oder erkannte sie ihn einfach nicht? Sie hatte immerhin keine Ahnung, wie sehr er sich über die Jahrhunderte verändert hatte. Sie wusste ja nicht einmal genau, wie alt er war, als er dem Clan beigetreten war, also beschloss sie, einfach in Drewfires Nähe zu bleiben.
Kurze Zeit später betrat Dracula den Saal und eröffnete die Aufnahmezeremonie. Woher auch Ryan so plötzlich kam, konnte Angel nicht mit Sicherheit sagen, aber zumindest erkannte sie ihn, im Gegensatz zu Drewfire, direkt wieder. Seine schwarzen Haare trug er schon damals lang, allerdings ohne irgendwelchen Schmuck oder Zöpfe. Unwillkürlich fragte sich Angel, ob das nun wirklich Drewfires Vergangenheit war, oder ob das Ganze doch nur ihrer Fantasie entsprang.
Egal, spannend war es so oder so.
Eigentlich wollte Angel zuhören, was Dracula sagte, wurde aber von der leisen Unterhaltung abgelenkt, die Drewfires Eltern neben ihr führten.
»Glaubst du, er wird wirklich die Nachfolge seines Vaters antreten?«, fragte ihre Mutter.
»Das wird sich zeigen. Irgendeiner wird es wohl tun müssen.«
»Müssen? Ich weiß nicht, Samael. Braucht der Clan wirklich einen Bluthäscher? Wir haben immerhin den Schattenrat und dazu bereits jetzt eine recht ansehnliche Streitmacht. Vielleicht wäre das etwas für ihn, gute Krieger werden immer gebraucht.«
Drewfires Vater zuckte mit den Schultern. »Wie dem auch sein, sollte er bereits jetzt die Arbeit seines Vaters antreten, überschreitet er vermutlich ohnehin nicht einmal das Alter eines Jungvampirs.«
Angel war ganz froh darüber, zu wissen, dass er mit dieser Einschätzung gewaltig daneben lag. Dennoch war sie einigermaßen entsetzt über die Ablehnung, die aus dem Gespräch heraus zu hören war. Auch beim Blick durch den Raum verriet das ein oder andere Gesicht eher verhaltene Begeisterung.
Mit Ausnahme einiger Frauen, die bei Ryans Anblick ganz offensichtlich andere Fragen im Sinn hatten als die, welcher Berufung er nachgehen wollte. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass er kaum das die Aufnahmezeremonie vorbei war, von Bewunderinnen umringt wurde.
Manche Dinge ändern sich wohl nie, dachte sich Angel und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Drewfire. Gerade noch rechtzeitig, denn das Mädchen hatte sich mucksmäuschenstill ein ganzes Stück von ihren Eltern entfernt und verschwand gerade in der Menge, um sich heimlich davonzustehlen.
Angel folgte ihr und beobachtete grinsend und mit einer gewissen Vorfreude, wie das Mädchen auf Ryan zusteuerte, der sich ihnen von rechts näherte und immer wieder kurz aufgehalten wurde, da ihm jemand zum Clanbeitritt gratulierte.
Schließlich kam, was kommen musste:
Drewfire achtete auf ihrer ›Flucht‹ mehr auf das was hinter, als auf das was vor ihr lag und schaffte es letztlich nicht mehr, rechtzeitig zu stoppen, als sie gerade wieder nach vorn sah und Ryan plötzlich vor ihr stand.
»Vorsicht junges Fräulein. Wohin so eilig?«, fragte Ryan amüsiert.
Schnell ging das Mädchen wieder zwei Schritte auf Abstand und blickte zu dem Mann auf, der gut zwei Köpfe größer war als sie und sie abwartend ansah.
Wurde Drewfire gerade etwa tatsächlich rot?
»Ich … ähm… will nur nach draußen«, murmelte sie kleinlaut, deutete an Ryan vorbei auf die Tür und wich dabei seinem Blick aus.
Ryan beugte sich ein Stück zu ihr herunter. »Bist du nicht etwas zu klein, um hier ganz allein herumzustreunen?«
Prompt richtete Drewfire sich wieder auf, verschränkte die Arme und Angel wartete schon auf einen energischen Protest oder zumindest eine freche Antwort.
Als das Mädchen allerdings in Ryans übertrieben ernstes Gesicht sah, mit dem sie nun auf Augenhöhe war, brachte sie nur noch ein verhaltenes »Ich bin nicht klein«, heraus. Angel unterdrückte es laut aufzulachen. Bisher hatte zwar niemand auf sie reagiert, aber sie wollte nichts riskieren. Amüsiert schüttelte sie den Kopf. Das war so typisch Ryan und von Drewfire so ungewohnt niedlich.
»Hier bist du, wir haben dich schon gesucht.«
Drewfire nutzte die Gelegenheit, dass ihr Vater neben ihr auftauchte sofort, um sich, – nun ja, bedingt unauffällig -, einen halben Schritt hinter ihn zu stellen.
Samael richtete das Wort derweil an Ryan: »Angel?«
Moment…
»Angel«
Was?
»Hey, aufwachen«.
Die Szenerie verschwamm und vor Angel tauchte Andrés freundliches Gesicht auf.
»Du solltest nach Hause gehen. Oder dich zumindest in eines der Gästezimmer legen«, bot der Schulleiter ihr lächelnd an.
Hatte sie das alles etwa nur geträumt? »Wie spät ist es?«, fragte sie gähnend.
»Kurz vor Mitternacht.«
»Schon? Na schön, ich bin sowieso fertig. Dann geh ich mal nach Hause.«
André nickte und bedankte sich für ihre Hilfe, dann verließ er die Bibliothek wieder.
Angel streckte sich und wollte gerade das Buch zuklappen, als sie die letzten Buchstaben auf dem vergilbten Papier verblassen sah.